Was „Der Sandmann“ und „The Stanley Parable“ verbindet – Shower Thoughts über Erzählperspektiven

Nathanael erwachte wie aus schwerem, fürchterlichem Traum, er schlug die Augen auf und fühlte, wie ein unbeschreibliches Wonnegefühl mit sanfter himmlischer Wärme ihn durchströmte [1]

E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“, die sicherlich den meisten aus dem Deutschunterricht bekannt ist, vermischt in ihrer Schreibweise Traum und Realität. Oberflächlich geht es um den von einem Kindheitstrauma geplagten Nathanael, dessen Leben in einen gewissen Assoziationszwang verfällt. Überhall wohin er geht, wird er von der Gestalt des gruseligen Coppelius verfolgt, bis er schließlich gänzlich dem Wahn verfällt. Jedoch können wir uns nie sicher sein, dass das so in dieser Novelle passiert, was meiner Meinung nach der eigentliche Knackpunkt der Geschichte ist. Wir als Leser erleben die Geschichte von Nathanael anfangs durch Briefverkehr durch Ich-Erzähler und später durch eine personale Erzählperspektive. Alle Erzähler sind homodiegetisch, also ebenfalls ein Teil der Handlung, die sie erzählen. Seien es die beiden Hauptfiguren Nathanael und seine Geliebte Klara, oder der später eintretende personale Erzähler, der sich selbst als „Freund [des] jungen Studenten Nathanael“[2] beschreibt. Jede Wahrnehmung der Handlung, die wir vermittelt bekommen, ist eine von zum Beispiel Emotionen beeinflusste; jeder Erzähler ist unzuverlässig. Eine objektive Abbildung der Handlung gibt es hier nicht und gerade auch der zweideutige Schreibstil Hoffmanns trägt dazu bei, dass der Leser nie ganz ergründen kann, was tatsächlich in der Novelle geschieht und was reine Hirngespinste Nathanaels sein könnten. Hoffmann schafft es so, durch ein Buch, Kritik an der teils stark eingeschränkten erzählerischen Struktur des Mediums sowie an unserer eigenen eingeschränkten Wahrnehmung der Realität auszuüben.

Was das alles mit The Stanley Parable zu tun haben soll, verrate ich gerne.

The Stanley Parable ist ein Narrative Game von Davey Wreden. Ursprünglich als Mod für die Source-Engine entwickelt, erschien ein HD-Remake 2013 auf Steam. Der Erzähler des Spiels beschreibt zu Beginn die Ausgangssituation wie folgt:

This is the story of a man named Stanley. Stanley worked for a company in a big building where he was Employee #427. Employee #427’s job was simple: he sat at his desk in room 427 and he pushed buttons on a keyboard. [3]

Das ganze Spiel über begleitet uns diese Stimme des Erzählers, während wir durch die Korridore des Firmengebäudes spazieren. Wir übernehmen die Rolle von Stanley und decken im Verlauf der Geschichte eine große Verschwörung hinter dem Firmenchef auf. Oder eben nicht. Und hier möchte ich ansetzen: Denn das, was The Stanley Parable so einzigartig macht, ist die Art und Weise der Erzählung. Diese zeigt uns auf, im Vergleich zu den Erzählstrukturen in Büchern, die in „Sandmann“ dargestellt werden, dass Spiele durch ihre Interaktivität einen Grundbaustein für neue, durch den Spieler gelenkte Narrative legen. Mal ein klassisches Beispiel aus dem Spiel, zum besseren Verständnis: Kurz nach Beginn kommt ihr in einen Raum mit zwei Türen. Der Erzähler sagt:

Two_Doors_Room

When Stanley came to a set of two open doors, he entered the door on his left.

Jedoch können wir uns ebenfalls entscheiden, das Narrativ des Erzählers zu verlassen, und durch die rechte, statt die linke Tür zu gehen. Der Erzähler reagiert natürlich entsprechend auf solche Brüche der Handlung, die sich durch das gesamte Spiel ziehen. Aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen; jeder sollte Stanley Parable mal gespielt haben. Um nochmal Rückbezug auf den Anfang zu nehmen: „Der Sandmann“ zeigt dem Leser, dass er, um die Geschichte zu erfahren, auf den vorgegebenen Erzähltext angewiesen ist. Der Text ist der Anküpfungspunkt für die Vermittlung einer Erzählung und ausgehend von bestimmten Erzählperspektiven, stark eingeschränkt. Die Geschichte wird quasi nie mit eigenen Augen, sondern mit denen des jeweiligen Erzählers, gesehen. The Stanley Parable macht im Prinzip dasselbe, bloß innerhalb eines anderen Mediums. Es wird verdeutlicht, dass die erzählerischen Schranken eines geradlinigen Scripts durch die Interaktion des eigentlichen Rezipienten, dem Spieler, durchbrochen werden können, um aus der eigentlich eingeschränkten Sicht der Erzählung heraustreten zu können. Wobei man natürlich auch argumentieren kann, dass selbst die Ausschweifungen des Spielers in der Programmierung und Entwicklung miteinbezogen wurden, womit man sich, selbst beim Abschweifen immer noch im Rahmen der Gesamthandlung bewegt – aber das führt das Gedankenexperiment eventuell etwas zu weit. Auf jeden Fall zeigt uns „The Stanley Parable“ den wichtigsten Unterschied der beiden Formen der Geschichtenerzählung und wie Videospiele viele fantastische sowie einzigartige Erlebnisse von Narrativen bieten können.

Verwendete Lektüre:
E.T.A. Hoffmann „Der Sandmann“ von 1816 – 174. Hamburger Leseheft
[1] S.33 Z.7f
[2] S.16 Z.20f


[3] Stanley Parable Intro

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Autor: Amon

Versucht des Öfteren, etwas Fundiertes über Videospiele zu sagen und zu schreiben. Meistens - aber nicht ausschließlich - auf seinem eigenen Blog. @AsonDT auf Twitter

5 Kommentare zu „Was „Der Sandmann“ und „The Stanley Parable“ verbindet – Shower Thoughts über Erzählperspektiven“

  1. Ein sehr interessanter Beitrag! Ich hatte Anfangs keine Idee, worauf der Text hinauslaufen wird, fand deinen Bezug zu The Stanley Parable dann aber sehr überzeugend. Ich habe das Spiel leider selbst nicht gespielt, aber schon ziemlich viel darüber gehört und gelesen, und zu E.T.A. Hoffmann und der deutschsprachigen Romantik im Allgemeinen hab ich ehemals nicht so recht einen Zugang finden können. Aber das ist auch lange her und den Sandmann im Speziellen habe ich noch nie gelesen – damit könnte ich es eigentlich noch einmal versuchen. Ansonsten zählt die Romantik nämlich zu meinen liebsten Literaturepochen.

    Beispiele für das, was The Stanley Parable macht, fallen mir allerdings nicht viele ein. Ich denke, es ist immer noch sehr selten, dass Videospiele ihre interaktive Komponente dazu nutzen, den Spielern über situatives Geschehen hinaus einen Einfluss auf ihre Erzählung zu erlauben. Und Erzähler in Videospielen sind meist ausgesprochen autoritär, was eigentlich ein ziemlicher Widerspruch zur gebotenen Interaktivität ist, und ein Konzept, von dem an sich in der Literatur ja schön längst verabschiedet hatte (eigentlich schon in der Romantik, auch wenn diese Autorität in den Folgeepochen erst einmal zurückkehrte).

    Interessant finde ich in letzter Zeit aber auch solche Spiele, in denen der Spieler im Angesicht der Erzählung ausnahmsweise einmal machtlos ist und wo die ihm zur Verfügung stehenden Fähigkeiten nicht ausreichen, die Herausforderungen zu bewältigen. Namentlich spreche ich von Emily Is Away und Doki Doki Literature Club. Ich denke, dass auch dort eine interessante Auseinandersetzung des Spielers mit der Handlung stattfindet, weil er an diese Machtlosigkeit nicht gewöhnt ist, sie nicht hinnehmen möchte, sich fragt, ob es nicht vielleicht doch ein Schlupfloch gibt, das vorgegebene Resultat der Erzählung zu verändern.
    Und indem diese Spiele diese Möglichkeit nicht bieten, werden dem Spieler die erzählerischen Limitierungen klar, die in anderen Spielen zwar meist genauso existieren, dort aber nicht erfahren werden, weil dem Spieler dort alle notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, die Erzählung an ein zufriedenstellendes Ende zu führen. Ist das irgendwie verständlich? 😉

    Ich habe nun wirklich Lust bekommen, einmal den Sandmann zu lesen, und bin schon gespannt auf weitere Beiträge auf deinem Blog! Mach weiter so! 🙂

    Gefällt 1 Person

    1. Danke für deinen tollen Kommentar Sylvio! Finde den Punkt sowie die Beispiele, die du anführst auch sehr interessant. Habe beide Spiele gespielt und denke gerade bei Doki Doki Literature Club wird dem Spieler am Ende eigentlich jeden Handlungsspielraum, den er zuvor hatte genommen, sodass er nichts anderes tun kann, außer ohnmächtig vor vollendeten Tatsachen zu sitzen. Auch Emily is Away ist hinsichtlich der Erzählperspektive cool, da fand ich es vorallem aber immer interessant, wenn es den Spieler vor eine scheinbare Entscheidung stellt, diese durch die Spielfigur aber verändert wird. Undertale ist da eigentlich auch ein schönes Untersuchungsobjekt, auch wenn es eventuell ein Gegenbeispiel zu deinem Gedankengang darstellen würde. 😀
      Und noch zum Sandmann; Tatsächlich ist die Novelle, auch wegen angeführter Punkte, eines meiner Lieblingsbücher geworden. Ist auch, wie ich finde, ein relativ leicht zugänglicher Vertreter von „klassischer“ Literatur, da die Sprache nah am heutigen Sprachbild ist. Gerade die Stelle, an der der Erzähler wechselt hatte mich ordentlich gehooked! 🙂

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      1. Das hat mich an Emily Is Away gerade zum Ende hin auch sehr fasziniert! Ich hab das so interpretiert, dass hier der Spieler mit den Grenzen seiner eigenen Persönlichkeit (oder mit seinen Möglichkeiten) konfrontiert wird, welche hier zwar die Grenzen des Ingame-Protagonisten sind, aber dessen Rolle hat der Spieler schließlich eingenommen. Damit nimmt das Spiel dem Spieler die Freiheit, die er auch in der Realität _nicht_ hätte – nämlich eine Sache immer wieder neu und anders zu versuchen, sich durch und durch frei und ergebnisorientiert zu entscheiden.
        Emily Is Away ist damit, meine ich, nicht so sehr ein Spiel über vergebene Chancen oder falsche Entscheidungen, sondern über die Limitierungen der eigenen Persönlichkeit, darüber etwa, dass man sich nicht überwinden kann, eine bestimmte Sache zu sagen oder zu tun, weil sie dem eigenen Charakter entgegenläuft, oder darüber, dass eine bestimmte Person einfach nicht erreichbar ist, egal wie stark man sich auch „anstrengen“ mag.
        Ich hatte auch einmal begonnen, einen Artikel über das Spiel zu schreiben, aber es gelang mir irgendwie nicht zufriedenstellend. 🙂

        Doki Doki Literature Club hab ich leider ab einem bestimmten Punkt nicht weiterspielen können, weil ich offenbar einen _echten_ Bug mit meinem Computer erlebte. 😀 Aber ich muss nochmal schauen, ob ich das irgendwie umgehen kann. Leider bin ich auf der Suche nach einer Lösung mittlerweile schon etwas gespoilert worden, aber bei Gelegenheit versuche ich es trotzdem nochmal. Undertale hab ich leider auch noch nicht gespielt, habe das aber noch vor.

        Ein interessantes Beispiel für ein Spiel mit einem unzuverlässigen Erzähler ist auch Killer 7. Nicht so meta wie The Stanley Parable, aber der Twist, den die Handlung dadurch erfährt, ist schön.

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